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Von Minsk nach Manhattan

Polnische Reportagen

Erschienen am 04.03.2006
21,50 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783552053717
Sprache: Deutsch
Umfang: 272 S.
Format (T/L/B): 2.5 x 21 x 13.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Autorenportrait

Martin Pollack, geboren 1944 in Bad Hall, Oberösterreich, studierte Slawistik und osteuropäische Geschichte. Bis 1998 Korrespondent des Spiegel in Wien und Warschau. übersetzer u. a. von Ryszard Kapuscinski. Preise u. a.: Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (2011), Johann-Heinrich-Merck-Preis, Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik (beide 2018). Bei Zsolnay sind u.a. erschienen: Anklage Vatermord. Der Fall Philipp Halsmann (2002), Der Tote im Bunker. Bericht über meinen Vater (2004), Kaiser von Amerika. Die große Flucht aus Galizien (2010) und zuletzt Die Frau ohne Grab. Bericht über meine Tante (2019).

Leseprobe

Mariusz Szczygiel Reality Janina Turek, Mutter von drei Kindern, aß am 1.10.1996 zu Mittag eine Pilzsuppe mit Nudeln, Gulasch mit Kartoffeln und rote Rüben und zum Nachtisch Trauben. Vierzig Jahre zuvor, am 19.2.1956, hatte sie ebenfalls ein normales und nahrhaftes Mittagessen zu sich genommen: heiße Wurst mit Kremsersenf, Brot, Apfelkompott, Kakaokuchen und Bischofsbrot. Am 21.3.1973 nahm sie zweimal das Telefon ab, ohne daß sich jemand meldete. Am 21.6.1976 fand sie auf der Straße neue elastische Kinderstrümpfe. Am 15.8.1981 trat sie ihrem Sohn Fleischkarten ab. Am 2.1.1982 brachte ihre Tochter ihr ein paar Äpfel mit. Am 7.12.1983 brachte ihr geschiedener Mann ihr zwei gelesene Zeitungen mit. Am 3.2.1985 klopfte ein Unbekannter bei ihr, er hatte die Wohnungstür verwechselt. Am 3.1.1997 aß sie bei einer Freundin Chips. Am 1.2.1998 schaute sie aus dem Fenster und sah, wie ihre Nachbarin, Urszula Krzywon, aus dem Taxi stieg. In der Alltäglichkeit geschieht ständig etwas. Wir vollbringen zahllose kleine Handlungen, ohne zu hoffen, daß unser Gedächtnis diese festhält, vom Gedächtnis anderer ganz zu schweigen. Diese Handlungen werden jedoch nicht um der Erinnerung willen unternommen, sondern aus Notwendigkeit. Mit der Zeit geraten alle Bemühungen unseres täglichen Treibens in Vergessenheit. Janina Turek, eine Hausfrau, machte über ein halbes Jahrhundert lang eben das, was alltäglich ist und daher unbeachtet bleibt, zum Objekt ihrer Beobachtungen. Als erste erfuhr davon ihre Tochter. Nach dem Tod der Mutter im Herbst 2000 öffnete Ewa Janeczek einen Schrank und sah einen Stoß Hefte. (Später stellte sich heraus, daß es 728 Hefte waren). Es zeigte sich, daß ihre Mama alles aufgeschrieben hatte, was sie getan hatte. Ununterbrochen, Tag für Tag, vom Jahr 1943 bis zum Jahr 2000, hatte sie notiert: wie oft sie zu Hause das Telefon abgenommen und wer angerufen hatte (38196mal); wie oft sie jemanden angerufen hatte (6257mal); wo und wen sie zufällig getroffen und wem sie 'Guten Tag' gesagt hatte (23397mal); wie viele vereinbarte Begegnungen sie gehabt hatte (1922); wie viele Geschenke sie wem gemacht hatte und welche (5817); wie viele Geschenke sie erhalten hatte (10 868); wie oft sie Bridge gespielt hatte (1500mal); wie oft Domino (19mal); wie oft sie im Theater gewesen war (110mal); wie viele Sendungen sie im Fernsehen gesehen hatte (70042); und so weiter. 57 Jahre hindurch notierte und zählte sie alle Feiern, Ausflüge, Tanzveranstaltungen, gefundenen Gegenstände, Briefe, Lektüren, Kinogänge, Nächtigungen außer Haus, empfangenen Besuche, abgestatteten Besuche, Frühstücke, Mittagessen, Abendessen. Anfangs führte sie ein Heft für alle Bereiche des Lebens, dann bekam jeder Bereich sein eigenes Heft. Sie notierte nicht jede einzelne Mahlzeit, sondern verwendete ein bestimmtes System: In einem Jahr notierte sie jedes Frühstück, im nächsten - die Mittagessen, wieder im nächsten - die Abendessen. Nach drei Jahren - wieder jedes Frühstück. Daher kennen wir 4463 Frühstücke Janina Tureks, 5387 Mittagessen und 5936 Abendessen. Sie notierte sogar die im Fernsehen gesehene Werbung. Sie vermerkte, ob das Programm schwarzweiß war oder in Farbe und auf welchem Kanal sie es gesehen hatte. Zuletzt in Elemis. Das hätte der Philosophin Jolanta Brach-Czaina gefallen, die die metaphysische Dimension der Alltäglichkeit beschrieben hat. Die Grundlage unserer Existenz ist die unbewußte Betriebsamkeit. 'Man kann sich nicht mit der Rolle eines unbewußten Handlangers existentieller Tätigkeiten abfinden. Auch aus Selbstschutz muß man dem Sinn der Alltäglichkeit nachjagen wie einem Verbrecher', schrieb die Gelehrte. Janina Turek, Bewohnerin von Krakau, lauerte der Alltäglichkeit auf. Obwohl sie 3517 Bücher las, war keines von Jolanta Brach-Czaina darunter. Sie beschloß jedoch aus eigenem Antrieb, intuitiv, ihre Betriebsamkeit zu adeln. Jede noch so banale Tätigkeit ihres Lebens erhielt im Tagebuch eine eigene Nummer. Bei Filmen achtete si Leseprobe

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